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40 Leben

Eine große Freundschaft ein Leben lang

Als junge Frauen haben sich Maria Rassbach (98) aus Köln und Karla Kerst (94) mitten
im Krieg, im Jahr 1941, in der thüringischen Stadt Gotha kennengelernt, der Heimat-
stadt von Kerst. Gemeinsam flüchteten sie mit ihren Familien 1957 in den Westen,
nach Köln, und lebten weiterhin Tür an Tür in Niehl. Seit Sommer diesen Jahres woh-
nen sie auf demselben Flur im Seniorenheim St. Christopherus in der Feldgärtenstra-
ße. „Hier bleiben wir, bis wir die Augen zu tun“, sind sich die beiden Freundinnen einig.

Sie waren wie Zwillinge und wenn die eine    Ende des Zweiten Weltkriegs. „Wir haben
ohne die andere in Niehl unterwegs war,      Kartoffelsäcke aufgeribbelt und daraus
machten sich die Nachbarn schon Gedan-       Leibchen gehäkelt“, erinnert sich Maria,
ken, ob irgendetwas nicht in Ordnung sei.    die Resolute und Temperamentvolle. Karla
Maria Rassbach, ein echt kölsches Mädel,     war bekannt in der Nachbarschaft für ihre
                                             handgestrickten Röcke. „Was Maria gesagt
                                             hat, hat Karla getan“, sagt Tochter Sigrid.
                                             „Karla ist ausgleichend. Die beiden passen
                                             schon gut zusammen.“

                                             An die Jahre in Gotha erinnert sich Maria

                                             gern. „Wir wohnten nicht weit weg von

                                             Schloss Friedenstein. Das war schon sehr

                                             schön.“ Als gebürtige Kölnerin kann Maria

                                             regelmäßig in den Westen fahren, um ihre

                                             Familie zu besuchen. Doch sie kommt im-

                                             mer wieder zurück nach Gotha. „Karla hat

aufgewachsen in Bickendorf, setze sich       mir so viel geholfen, mich in der neuen Hei-
1941, mit gerade einmal 20 Jahren, kurz
entschlossen in einen Zug nach Leipzig,      mat zurechtzufinden.“ Doch als sich 1956,
um dem wachsenden Bombenkrieg in
Köln zu entfliehen. Eine Tante lebte in der  nach der Niederschlagung des ungarischen
sächsischen Stadt. Doch der Zug fuhr nicht
bis Leipzig, endete außerplanmäßig in Go-    Volksaufstands, die
tha. Maria strandete auf dem Bahnhof,
wurde von einer wildfremden Frau auf-        politische Situati-
genommen und blieb kurzerhand in der
ehemaligen Residenzstadt. Als gelernte       on in der DDR ver-
Damenschneiderin fand sie schnell Arbeit.
In Gotha lernte sie Karla Kerst kennen. Das  schlechtert, berei-
ist fast 80 Jahre her und noch heute sagt
Maria Rassbach mit Bestimmtheit: „Sie        tet Maria die Flucht
ist die Richtige.“ Während der Kriegsjahre
                                             der beiden Familien
arbeiten beide Frauen bei der Polizei und
auch nach 1945 denkt Maria nicht daran,      vor. Sie verkauft
nach Köln zurückzugehen. Ihre Heimat ist
jetzt Gotha. 1945 heiratet sie, 1946 wird    heimlich die Möbel,
Tochter Sigrid geboren, 1950 ihr Bruder.
1948 heiratet Karla, 1956 wird Tochter Be-   besorgt Flüge für
ate geboren. Die beiden Frauen und ihre
Familien wohnen dicht beieinander, helfen    alle, und im Som-
sich durch die schwierige Zeit nach dem
                                             mer 1957 geht es mit dem Zug über Ost-

                                             berlin in den Westteil der Stadt und von

                                             dort per Flugzeug nach Hannover. Endziel

                                             ist Köln, und Maria ist fest entschlossen,

                                             in der Domstadt eine Wohnung für bei-

                                             de Familien zu finden. Das gelingt ihr in

                                             Niehl, und Maria und Karla ziehen im Fe-

                                             bruar 1958 in einen Neubau ein, Parterre,

                                             rechts und links je eine Wohnung. „Die

                                             Türen waren fast immer offen“, erinnert

                                             sich Tochter Sigrid. Die beiden Frauen er-

                                             ziehen ihre drei Kinder gemeinsam, die

                                             Familien verstehen sich untereinander.

                                             Es bleibt eine Freundschaft fürs Leben.

                                             Bis Juli 2019 hat Karla Kerst noch allein in

                                             dieser Wohnung gewohnt und ist dann

                                             ihrer Freundin Maria ins Seniorenheim St.

                                             Christophorus gefolgt, wo diese schon seit

                                             eineinhalb Jahren lebt. „Hier bleiben wir bis

                                             zum Schluss“, sagen die beiden Frauen und

                                             grinsen verschmitzt.  mac
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