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40 Leben
Auf ein Kölsch im Kappes mit Günter Wallraff
Der Journalist wuchs in Mauenheim auf und besuchte das Blüchergymnasium
Mit dem Rennrad ist Günter Wallraff in zehn Minuten von seiner Wohnung in Eh- le darunter gelitten. Aber ich habe da er-
lebt, dass die ärmeren Leute, die damals
renfeld zum Interview nach Nippes gerast. „Ich bin jemand, der immer auf den noch in der Laubenkolonie von Flora e. V.
lebten, das meiste Trinkgeld gaben. Na-
letzten Drücker kommt“, sagt er fast entschuldigend. „Und mittlerweile gilt für türlich hat diese familiäre Situation mei-
ne Arbeit beeinflusst. Die erste meiner
mich: Wer zu spät kommt, den belohnt das Leben.“ Wir treffen uns kurz nach Mit- Industriereportagen habe ich über die
Ford-Werke veröffentlicht, als Arbeiter
tag und zum Anstoßen mit Früh-Kölsch ist es ihm da noch zu früh. Er trinkt lieber am Fließband.
Mineralwasser. Foto: Biber Happe Waren Sie ein guter Schüler?
Ich war ein schlechter Schüler. Außer in
Für Nippes: Herr Wallraff, am 1. Oktober ter Ali bei Thyssen malocht, waren der Deutsch, Sport und Kunst. Da hatte ich
werden Sie 75 Jahre alt. Wird es ein großes Reporter Hans Esser bei der Bild-Zeitung eine eins. Mir lagen die theoretischen
Fest geben? und deckten deren unlautere Arbeitsme- Fächer nicht. Vielleicht eine gute Vo-
Günter Wallraff: Nein, ich versuche, thoden auf, seit fünf Jahren gibt es das raussetzung für meine spätere Arbeit.
derartigen Feierlichkeiten zu entfliehen. Team Wallraff bei RTL, das verdeckt in Ich musste es selbst erleben, konnte
Dass ich so alt geworden bin, ist kein Ver- Wirtschaftsbetrieben arbeitet und Miss- mich gut in andere Menschen hinein-
dienst. Vor 25 Jahren, 1992, an meinem stände öffentlich macht. Wie hat die versetzen. Durch diesen Perspektiv- und
50. Geburtstag habe ich nach den Aus- Schule, wie haben Lehrer Sie beeinflusst? Rollenwechsel konnte ich immer wieder
Ich hatte einen Deutschlehrer, dem ich dazulernen.
schreitungen in Rostock-Lichtenhagen
mit den Vietnamesen gefeiert, ohne ih- viel zu verdanken Wie sind Sie Journalist geworden?
nen zu sagen, dass ich Geburtstag hatte. Nach der mittleren Reife bin ich vom
An meinem 60. war ich in Afghanistan, habe, weil er nicht Gymnasium abgegangen und habe bei
habe dort eine Mädchenschule gestiftet. Gonski am Neumarkt eine dreijährige
nur stur Gramma- Buchhändlerlehre gemacht. Ich habe
viel gelesen, lebte in der Literatur und
tik paukte, son- habe diese Lehre eigentlich begonnen,
weil ich so günstig an Bücher kommen
dern uns auch mit konnte. Dass ich schließlich Journalist
und Schriftsteller geworden bin, ver-
Schriftstellern wie danke ich der Zeit bei der Bundeswehr.
Die hat mich geprägt und aufgerüttelt.
Heinrich Böll, Wolf- Zehn Monate habe ich kein Gewehr in
die Hand genommen, weil ich gegen
gang Borchert, Bert meinen Willen eingezogen worden war.
Ich hatte meinen Antrag auf Kriegs-
Brecht oder Kurt dienstverweigerung zu spät gestellt. Die
Schleifermethoden, es gab ja noch viele
Tucholsky bekannt alte Nazis, die Schikanen der Ausbilder,
die Methoden zur Willensbrechung habe
machte, die nicht ich in einem Tagebuch festgehalten, das
ich unter anderem auch an Heinrich Böll
auf dem Lehrplan geschickt habe. Er hat mich ermutigt,
durchzuhalten und weiterzuschreiben.
standen. Und er Um meine Veröffentlichung unglaub-
würdig zu machen, wurde ich in die
hat meine pazifi- geschlossene Psychiatrieabteilung des
Bundeswehrlazaretts in Koblenz einge-
stische Grundhal- liefert und schließlich mit dem „Ehren-
titel“ „abnorme Persönlichkeit“ und „für
tung wesentlich Krieg und Frieden untauglich“ wieder in
die Freiheit entlassen. Dort ist mir nicht
mitgeprägt. Dieser hören und sehen vergangen, sondern so
richtig aufgegangen.
Lehrer hatte ein
Kriegstrauma, denn er war als junger
Soldat einem Erschießungskommando
zugeteilt, das einen Deserteur erschoss.
Dieses Trauma hat ihn bis ans Lebensen-
de belastet.
Sie leben schon lange in Ehrenfeld, sind Ihr Vater ist ganz unerwartet, nach einer
aber in Mauenheim aufgewachsen und Routine-Untersuchung im Vinzenz-Hospi-
haben dort die ersten 20 Jahre ihres Le- tal, gestorben. Da waren Sie 15 Jahre alt.
bens verbracht. Das war ein Schock für meine Mutter
Ich bin zwar in Burscheid geboren, aber und mich, auch, weil er so plötzlich ge-
das lag daran, dass meine Mutter zu der storben ist. Mein Vater hatte bei Ford ge-
Zeit, aufgrund der Bombardierungen in arbeitet, in der Lackhölle, wie die Arbeiter
Köln, bei meiner Großmutter lebte. Bis dies nannten, und hat sich dort seine Ge-
zur mittleren Reife bin ich aufs Blücher- sundheit ruiniert. Ohne Rentenansprü-
gymnasium gegangen. Ich war jeden che waren wir richtig arm und wurden
Morgen spät dran, so dass ich den Weg zeitweise von der Notküche der Vinzenti-
von Mauenheim zur Schule immer gelau- nerinnen versorgt. Ich musste schon früh
fen bin. Das war ein gutes Training. Geld verdienen, habe Zeitungen ausge-
tragen und hatte ein großes Revier, das
Sie sind Enthüllungsjournalist und Schrift- von der Agneskirche bis nach Longerich
steller, haben als türkischer Gastarbei- reichte. Dementsprechend hat die Schu-

